Langzeit‘-Grammatiken für den Französischunterricht

Bernd Spillner (Duisburg-Essen)

Abstract
Nach einer Übersicht zu den Unterschieden zwischen Erstsprachenerwerb und Fremd­sprachenvermittlung werden mit der Konversationsmethode und der Regel-Über-set­zungs-Methode die dominierenden Verfahren des traditionellen Fremdsprachen-unterrichts beschrieben. Anschließend werden zwei ‚Langzeit'-Grammatiken des Fran­zösischunterrichts gegenübergestellt: die unter dem Namen Meidinger publizierten Lehrwerke und die Grammatik-Linie Strohmeyer - Klein - Kleineidam. Der Erfolg von Meidinger wird auf die mühelose Anwendbarkeit durch den die Regeln abfragenden Lehrer zurückgeführt, die Langzeitwirkung der Linie Strohmeyer - Klein - Kleineidam auf die jeweilige Rezeption der neueren Linguistik und die Rückkoppelung an ein sich ent­wickelndes Sprachlehrwerk.

1 Einleitende Bemerkungen
Im Fremdsprachenunterricht gibt es einige ‚Grammatiken‘, die sich im Unter­schied zu vielen kurzlebigen Lehrwerken erstaunlich lange gehalten haben. Mit Grammatik kann dabei ein Fremdsprachenlehrwerk gemeint sein. Der Terminus kann sich aber auch auf eine deskriptive oder normative Sprachlehre beziehen, die unter Umständen als Referenzwerk oder als Beiheft zu einem Sprachlehr­werk konzipiert ist oder als solches verwendet werden kann. Die didaktische Funktion solcher ‚Grammatiken‘ - insbesondere bei solchen mit einer langen Lebensdauer - kann sich dabei sehr wohl ändern. Dies hängt vornehmlich von der historisch sich wandelnden Funktion der Sprachdidaktik zusammen.
Die Fremdsprachdidaktik ist in ihrer Geschichte keineswegs immer kommunika­tiv orientiert gewesen. Auch eine Unterscheidung zwischen Muttersprache und Fremdsprache ist durchaus nicht immer vollzogen worden. Gegenwärtig besteht in der Sprachvermittlung jedoch Konsens darüber, dass grundsätzlich zwischen Muttersprachenerwerb und Fremdsprachenvermittlung unterschieden werden muss. Ob beim Lerner die beiden Erwerbsprozesse kognitiv verbunden oder streng getrennt verlaufen, wird in der Spracherwerbsforschung und in der Psy­cholinguistik kontrovers diskutiert. Einigkeit besteht darüber, dass zwischen beiden Lerngebieten wichtige Unterschiede bestehen:

Muttersprachenerwerb
Erstsprachenerwerb L1
Fremdsprachenvermittlung
Zweitsprachenerwerb L2
Lernalter: 0-10 Jahre
Ab etwa 8 Jahren
Lerndauer: täglich, 10 Jahre
2 bis 5 Stunden wöchentlich, 3 bis 5 Jahre
Sprachliches Vorwissen: ?
L1
Umgebung / Situation: Muttersprachler / Familie / Kindergarten / Schule
Klassenraum
Kognitive Voraussetzungen: keine
[‚eingeborene Ideen‘, ‚Grammatikkompetenz‘: empirisch nicht nachgewiesen]
Strukturen der L1
[Kontrastivität, Transfer]
Lernschwerpunkte: Alphabetisierung, Schreibunterricht
Alle Fertigkeiten [auch Aussprache, Grundwortschatz]
Tab. 1: Vergleich Muttersprachenerwerb und Fremdsprachenvermittlung
Ob beim Muttersprachenerwerb sprachliches Vorwissen besteht, hängt von sprachtheoretischen Annahmen ab. Die Frage nach grammatischem oder lexika­lischem Vorwissen ist zu bejahen, wenn – wie von den durch Chomsky unter Rückgriff auf Descartes postulierten – eingeborenen Ideen ausgegangen wird (Chomsky 1966). Der empirische Nachweis ist jedoch sehr schwach und bestreit­bar.
Die Linguistik geht davon aus, dass menschliche (natürliche) Sprache - historisch und methodisch - zunächst gesprochene Kommunikation ist. In einer Reihe von Sprachen / Kulturen wird noch heute nur gesprochen kommuniziert. Erst später wird für bestimmte Zwecke (Dokumentation, Rechtssprache, Traditionssiche­rung) eine schriftliche Fixierung eingeführt. Ähnliche Konzeptionen gibt es auch in der Fremdsprachendidaktik. In ihrer Geschichte hat es aber zwei Richtungen gegeben (Tab. 2):
Fremdsprachendidaktik
Gesprochene Sprache
Geschriebene Sprache
Konversationsmethode
Regel-Übersetzungs-Methode
in Europa bereits im 17. Jahrhundert, in der Didaktik endgültig seit Beginn des 20. Jahrhunderts
im 18. Und 19. Jahrhundert
Muttersprachliche L2-Lehrer oder Sprach-Assistenten; Gespräche
L1-Lehrer; Auswendiglernen von grammatischen Regeln; schriftliche Texte; Übersetzung in die Zielsprache mit Übersetzungshilfen; Unterrichtssprache: Muttersprache der Lerner
in den USA seit etwa 1943/1944

Grundlagen: taxonomischer Strukturalismus, Behaviorismus; Methoden: Pattern Drill, Wiederholungsübungen, Strukturübungen

Tab. 2: Fremdsprachdidaktik
In der heutigen Fremdsprachendidaktik gilt das Primat der gesprochenen Spra­che. Praktisch zeigt sich dies in Partnerarbeit, Rollenspielen, Dialogen und Grup­penarbeit (statt Frontalunterricht). Umstritten ist, ob die Sprachvermittlung einsprachig in der Zielsprache durchzuführen ist (um kontrastiv bedingten nega­tiven Transfer zu vermeiden) oder zweisprachig. Gegenwärtige Tendenz ist eine aufgeklärte Einsprachigkeit (Butzkamm 1973), die Erklärungen, Wortschatzvermittlung etc. auch muttersprachlich zulässt. Übersetzungsübungen werden nicht als Lehrmethode, wohl aber als Verstehenssicherung und als Erfolgskon­trolle zugelassen (zur Frage des Einsatzes von Übersetzungen im Fremdspra­chenunterricht vgl. Weller 1981).

2 Fremdsprachenvermitlungsmethoden
Vereinfacht gesagt, hat es bis zum 18. Jahrhundert nur zwei Methoden der fremdsprachlichen Unterweisung gegeben. Dies stellt bereits Françisco Roux 1746 in der dritten Ausgabe seiner Gründlichen Unterweisung zur Französischen Sprache fest:
Es ist etwas Bekanntes, daß es nicht mehr als zwey Arten giebet, wie man eine Sprache gehörig erlernen könne. Es geschiehet entweder ohne Regeln durch den täglichen Umgang mit Personen, die derselben kundig sind, aus deren Reden die Wörter, deren Bedeutung, Veränderung und Verbindung mit anderen man erler­net: oder es geschieht durch Beihülfe einiger Regeln, nach denen die Veränderun­gen und Verbindungen der Wörter unter einander eingerichtet werden. Der erste Weg ist vor Kinder, denen es noch an der Fertigkeit fehlet, von allgemeinen Sätzen auf das Besondere zu schliessen, der leichteste, ob es schon dabey mit der Erler­nung der Sprache etwas langsam zugehet. Bei Erwachsenen dagegen ist der letzte Weg der sicherste, kürzeste, deutlichste und der beste. (Spillner 1985, 147 und 154)

2.1 Die Konversations- oder Parliermethode
Aus der Imitation der mündlichen Fremdsprache in der Umgebung von Spre­chern hat sich in der Fremdsprachendidaktik des frühen 18. Jahrhunderts die Konversationsmethode oder auch Parliermethode entwickelt. Sie geht historisch zurück auf die mündlich betriebene Kommunikation im höfischen Bereich und in den Salons in Frankreich, wo es galt, über bestimmte Themen in Gesellschaft parlieren zu können. Im Vordergrund stand also die gesprochene Sprache, für die in den Lehrbüchern nach den gefragten Gebieten Musterdialoge angeboten wurden. Sie konnten auswendig gelernt und in der Gesellschaft bei passender Gelegenheit im Gespräch reproduziert werden. Der Fremdsprachenunterricht geht also vom konkreten mündlichen Sprachgebrauch aus, den der Schüler imitativ nachvollziehen soll. Damit werden einige Elemente vorweggenommen, die im 20. Jahrhundert im Immersionsverfahren ausgebaut werden. Für die Lehrbücher müssen die wichtigsten Dialogelemente angeboten werden, z.B. ein Gespräch in einem Restaurant:
Monsieur Louïs, voila de tres délicate venaison, parfaitement bien acom-modée.
Herr Ludwig / das ist außbündig Wild­pret/trefflich wohl zugerichtet.
En voila du maigre & du gras. Cherchez vôtre apétit.
Das ist Magers und Fettes. Suchet eu­ern Appetit.
Pour moi, je mange de tout ce qu’on mange.
Was mich anlangt/ich esse alles was zu essen ist.
Mon moulin moud toute sorte de grain.
Meine Mühle mahlet allerley Geträyde
Il faut que je me ruë sur ce hachis.
Ich muß mich an dieses klein gehackte machen.
Et puis je prendrai à ce rôti.
Und darnach will ich über diesen Braten machen.
Oui, mettez vous après.
Ja/machet euch drüber her.
Il y a à prendre & à mordre.
Es ist daran zu nehmen und zu beissen.
Encore n’est-il viande que de chair.
Es ist doch keine bessere Speise als Fleisch.
Chair fait chair, & poisson poison.
Fleisch macht Fleisch/und Fische Gifft.

(Duëz 1699, 444)
Hier werden nicht nur Konversationselemente des Essens vermittelt, sondern auch sprichwörtliche Phraseologismen.
Die Lehreinheiten sind also kontextualisiert und thematisch auf typische und häufige Konversationsabläufe bezogen, z.B.:
De la Promenade, de la Visite, du Logement, & d’aller coucher. d’aller coucher
Vom Spatzieren gehen/von der Besu­chung/von der Besuchung/vom Lose-ment/und vom Schlaffen gehen.
Hé bien, Messieurs, à quoi passeront-nous l’après dinée?
Nun/ihr Herren/womit wollen wir den Nachmittag zubringen?
Nous la passerons bien à quelque Chose, atendez seulement.
Wir wollen ihn wohl mit etwas ver­treiben/wartet nur.
Que ferons-nous donc?
Was wollen wir dann thun?
Il nous faut faire quelque chose, pour nous divertir un peu.
Wir mussen etwas thun/ uns ein wenig zu erlustigen.
La récréation est fort bonne après le repas.
Die erlustigung ist sehr gut nach der Mahlzeit.
Voulons-nous jouër à la paume ou bien au balon?
Wollen wir im Ballhauß spielen/oder im Ballonen?
Ces éxercices-là sont trop violens incontinent après diner.
Diese Ubungen seynd gar zu hart stracks auff das Essen.
Joüons plûtôt aux cartes, ou aux dames.
Lasset uns lieber mit Karten oder im Bret spielen.
Sçavez-vous bien jouër aux échecs?
Könnet ihr auch im Schach spielen?
Un peu, mais je n’aime pas ce jeu-là. Et pourquoi non?
Ein wenig/aber ich spiele es nicht gern. Warum nicht?
Parce qu’il faut trop songer.
Weil man zu viel nachdenken muß.

(Duëz 1699, 456f.)
Diese Methode ist kommunikativ, textorientiert und auf die mündliche Sprache bezogen. Es ergeben sich jedoch einige Probleme. Wenn die Dialoge auswendig gelernt werden, ergibt sich die Notwendigkeit, sie je nach Kommunikations­gegenstand variabel abzuwandeln. Für die korrekte Aussprache gibt es noch kein verlässliches System der phonetischen Umschrift. Die Lehrbücher sind in diesem Punkt nicht für das Selbstlernen geeignet, sondern bedürfen eines kundigen Lehrers. Nicht ohne Grund verweisen die französischen Sprachmeister, die als Reformierte nach der Revokation des Ediktes von Nantes (1685) oder als Adlige nach der französischen Revolution Frankreich verlassen mussten und im deut­schen Sprachraum unterrichteten, darauf, dass die deutschen Französischlehrer die französische Phonetik oft nur schlecht beherrschen. Schließlich wird durch das mühsame Memorieren der Dialoge die Beherrschung der Grammatik ver­nachlässigt.

2.2 Die Regel-Übersetzungs-Methode
Die sogenannte Regel-Übersetzungs-Methode ist das genaue Gegenteil der Konversationsmethode. Sie geht von der geschriebenen Sprache aus. Die beiden Haupttätigkeiten des Fremdsprachenlerners sind das Auswendiglernen der grammatischen Regeln und das zunächst schriftliche und dann mündliche Übersetzen von Texten in die Zielsprache und dann von der Zielsprache in die Muttersprache. Verfasser und am häufigsten gedruckter Vertreter dieser Me­thode ist Johann Valentin Meidinger (1756 - 1822), der seine Practische Französische Grammatik‘ zuerst im Jahre 1783 im Selbstverlag publizierte. Im Jahre 1857, also 35 Jahre nach Meidingers Tod, erschien die 37. Ausgabe. Ferner erschienen noch unter seinem Namen von anderen Grammatikern bearbeitete Auflagen (z.B. von Sanguin 31808, Jakob Wießner 1840, A. Büchner (1857) und Der kleine Meidinger (1858), bearbeitet von J. Ullmann).
Bereits im Vorwort zur ersten Auflage (1783), in späteren Auflagen nach­gedruckt, verkündete Meidinger seine Sprachlehrmethode:
Die französische Sprache durch Regeln zu erlernen ist, wie jedem Kenner bekannt, der kürzeste Weg, den man nur einschlagen kann. Ja sogar um unsere Mutter­sprache recht zu können, müssen wir sie in etwas studiren; wie viel mehr eine fremde? – Ich kenne verschiedene Persohnen, die acht, zehen bis zwölf Jahre Französisch gelernt habe, und mit all ihrem Fleis, sehr fehlerhaft sprechen, und noch fehlerhafter schreiben. Allein es ist nicht zu verwundern; denn sie wissen nicht einmal (weil man es ihnen niemals gesagt, und weil sie die Grammatik nicht gelesen, oder wenn sie sie gelesen, nicht behörig verstanden haben,) was ein Nomen, was decliniren, was ein Verbum, was conjungiren etc. ist. (…) Da ich nun befand, daß die so sehr nöthig zu wissenden Regeln, in allen mir bekannten Grammatiken, zu weitläufig, (…) zu undeutlich, zu schwer und zu verworren vorge­tragen sind, sich auch darüber viele meiner Schüler (…) beklagten, so entschloß ich mich, um ihnen das Lernen und mir das Lehren leichter zu machen, denselben den ganzen Syntax, nach vorhergeschehener deutlicher Erklärung, durch leichte Aufga­ben auf eine sehr faßliche Art beizubringen.
(Meidinger 1790, Vorrede zur ersten Auflage)
Die Schüler lernen die in der Grammatik aufgeführten Regeln mit den grammati­schen Termini auswendig; der Lehrer fragt die Regeln ab; die Schüler übersetzen im Buch abgedruckte (für die Übersetzung arrangierte) Texte in die Zielsprache; der Lehrer korrigiert die Übersetzungen. Beim Übersetzen sollen die Schüler die gelernten Regeln ‚anwenden‘ (wobei unklar ist, was dabei ‚Anwendung‘ ist und worin der Lernprozess besteht).
Warum hat die Regel-Übersetzungs-Methode solchen Erfolg gehabt, und warum haben sich wichtige Elemente dieses Verfahrens bis ins 20. Jahrhundert erhal­ten? Der Grund dafür liegt sicher nicht im Lernerfolg bei den Schülern. Die mündliche Sprachbeherrschung ist stark vernachlässigt. Die Aussprache lässt sich durch Übersetzen und Auswendiglernen von grammatischen Regeln nicht erlernen, obwohl Meidinger den Anschein erweckt:
Wenn einer noch nicht Französisch lesen kann, so muß er sich ,wie sich’s wohl verstehet, die Lesregeln wohl bekannt machen. Wer nun in kurzer Zeit lesen lernen will, der lerne die Regeln und ihre Exempel auswendig: ist dieß geschehen, so durchgehe er aufmerksam was auf dieselbe folget, und lese, mit Hülfe seines Leh­rers, ein Gespräch nach dem andern, lerne mit unter den ersten Artikel (Articulum definitum), deklinire mündlich und schriftlich nach, und gebe wohl auf das Genus, den Numerum und den Gebrauch der Casuum acht.
(Meidinger 1790, Vom Gebrauch dieser Grammatik)
Der Grund für den großen Erfolg der Meidinger-Methode kann nur daran gelegen haben, dass sie dem Lehrer die geringste Mühe abfordert. Der Schüler muss die Regeln nach der schriftlichen Vorlage der Grammatik auswendig ler­nen. Der Lehrer hat lediglich das Memorieren (auf deutsch) zu kontrollieren. Der Lehrer muss nicht einmal die französische Aussprache gut beherrschen. Der Schüler hat die in der Grammatik vorgegebenen arrangierten und auf die Regeln bezogenen Texte schriftlich in die Zielsprache zu übersetzen. Der Lehrer muss bei der Korrektur der schriftlichen Übersetzungen nicht einmal die Fehlerur­sachen angeben:
Um das Uebersetzen der Aufgaben zu erleichtern, habe ich im Anfange die deutsche Construction etwas nach der französischen eingerichtet. Wenn also ein Schüler behörig acht giebt, wird er sie ohne Fehler übersetzen; sollte er dennoch solche machen, so corrigire man sie ihm nicht, sondern unterstreiche sie mit rother Dinte, und verweise ihn auf die Regel, damit er selbst einsehen und corrigiren lerne.
(Meidinger 1790, Vom Gebrauch dieser Grammatik)
Kein französisches Lehrwerk dürfte für einen Lehrer weniger Aufwand und Mühe bereiten als eine Meidingersche Grammatik. Es kommt kaum von unge­fähr, dass die Fehlerkorrektur bis heute ein vernachlässigter Bereich der Fremdsprachendidaktik ist. Für den Schüler steht das Wissen über grammatische Strukturen der Zielsprache im Vordergrund, nicht deren praktische (und münd­liche) Beherrschung. Um so verblüffender ist der langanhaltende Erfolg der Meidingerschen Lehrwerke.

2.3 Fremdsprachendidaktik im 20. Jahrhundert
Gegen die Dominanz der Regel-Übersetzungsmethode im Fremdsprachenunter­richt wird erst 1882 entschieden reagiert von Viëtor in seinem berühmten Traktat ‚Der Sprachunterricht muß umkehren!‘. Darin wird für den Vorrang der mündlichen Sprachbeherrschung gegenüber der Schriftlichkeit und dem Regel­wissen plädiert. Allerdings setzt sich erst langsam in der sogenannten ‚Direkten Methode‘ eine kommunikative Auffassung der Fremdsprache und der Vorrang der mündlichen Gegenwartssprache durch. In einigen Punkten wird so wieder auf die Konversationsmethode zurückgegriffen. Erst im 20. Jahrhundert werden audiolinguale Ansätze entwickelt und in den USA nach 1940 linguistische Methoden des taxonomischen Strukturalismus (Segmentierung und Klassifizie­rung) eingeführt (dazu u.a. Neuner 2003: 228ff).
Eine Abkehr von den didaktischen Ansätzen der ‚Direkten Methode‘ wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht, wenn rein linguistische Modelle der Dependenzgrammatik und der Generativen Grammatik dem Fremdspra­chenunterricht aufgezwungen werden.

3. 'Langzeit'-Grammatiken
3.1 Die 'Langzeit'-Grammatik von Fritz Strohmeyer bis Hartmut Kleineidam
Auch nach den vielbeachteten Forderungen Viëtors schwenkt die Fremdspra­chendidaktik keineswegs sofort auf den Vorrang des mündlichen Fremdspra­chenerwerbs um. Lediglich das Auswendiglernen von Regeln und die Über­setzung als Lernmethode verlieren nach und nach ihre führende Stellung in der Fremdsprachenvermittlung.
Dies gilt auch für eine weitere ‚Langzeit‘-Grammatik im Französischunterricht, die weitgehend parallel zum Lehrwerk Études françaises des Klett-Verlages entwickelte Grammatik/Sprachlehre der Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam. Sie reicht von 1921 bis in die aktuelle Gegenwart. Allein die Französische Sprachlehre von Klein und Strohmeyer erscheint von 1956 bis 1995, wie sich bereits am gleichgebliebenen Seitenumfang von 200 Sei­ten ablesen lässt, ohne tiefgreifende Veränderungen.
Leider ist eine gründliche Analyse der Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam bislang Desiderat. Eine solche Übersicht müsste auf alle Mitabeiter eingehen, die Beziehungen zum Lehrwerk Études françaises do­kumentieren, den Wandel in der linguistischen und didaktischen Konzeption he­rausarbeiten und in Beziehung zu den ministeriellen Richtlinien dokumentieren. Zu beachten wären auch die Beziehungen zwischen grammatischem Hauptwerk und didaktischen, auf das Lehrwerk Études françaises bezogenen Kurzfassungen. Es wären nach Möglichkeit auch die Intentionen des Verlages zu berücksichtigen und die Persönlichkeiten der drei Hauptpersonen zu fokussieren. Dabei wären etwa die heute kaum bekannten Leistungen von Fritz Strohmeyer hervor­zuheben. Sein Werk "Der Stil der französischen Sprache" von 1910 ist zu Unrecht heute vergessen. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine französische Stilistik, sondern um ein Handbuch der französischen Grammatik (also einen Vorläufer der späteren Bände), das das Wesen der französischen Sprache im Kontrast zur deutschen Sprache analysiert – ein methodischer Ansatz, der erst 1932 von Charles Bally wieder aufgegriffen wurde.
Dies könnte bis zu kuriosen Kleinigkeiten gehen wie der Tatsache, dass im OPAC mehrerer deutscher Universitätsbibliotheken Hartmut Kleineidam als Mitverfas­ser des grammatischen Werkes bis heute als Kleinadam figuriert.
Mangels einer gründlichen Autopsie und Würdigung der Langzeit-Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam kann immerhin das Werk und seine Entwicklungsstufen an Hand der wichtigsten Ausgaben nachvoll­zogen werden:
Strohmeyer; Fritz: Französische Grammatik auf sprachhistorisch-psychologischer Grundlage, Leipzig: Teubner 1921. (VI, 298 Seiten).
Strohmeyer; Fritz: Französische Grammatik auf sprachhistorisch-psychologischer Grundlage, 3. durchgesehene Auflage, Leipzig: Teubner 1949. (VIII, 292 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Etudes françaises. Französische Sprach­lehre, Stuttgart: Klett [1956]. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1957. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm: Etudes françaises. Kurzgrammatik, Stuttgart: Klett 1959 (96 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre. Etudes françaises, Stuttgart: Klett 1960. (200 Seiten).
Erdle-Hähner, R. & H.-W. Klein (unter Mitwirkung von Charles Muller): Études françaises. Für Mittel- und Realschulen. Zweibändiger Lehrgang für Französisch als 2. Fremdsprache, 2 Bde., Stuttgart: Klett 1962/63 (Grammatisches Beiheft (49 Seiten)).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1970. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1975. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Französische Grundgrammatik für Schule und Weiterbildung, Stuttgart: Klett 1979. (129 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1982. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch für Schule und Studium, Stuttgart: Klett 1986. (312 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Etudes françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1992. (160 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch für Schule und Studium, Stuttgart / Berlin : Klett 1994. (313 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Etudes françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1995. (160 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1995. (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart: Klett 1995 (erste Auflage, 34. Druck). (200 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam / Wolfgang Fischer: Etudes françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1998. (192 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: : Grammatik des heutigen Französisch für Schule und Studium, Stuttgart / Berlin : Klett 2004. (313 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm, Hartmut Kleineidam & Wolfgang Fischer: Etudes françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 2004. (192 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm, Hartmut Kleineidam & Rita Erdle-Hähner: Grammatik des heutigen Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule, Studium und Beruf, Stuttgart / Berlin: Klett 2008. (313 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule, Studium und Beruf, Stuttgart / Berlin: Klett 2011 (Neubearbeitung auf Basis der ersten Auflage, 16. Druck). (313 Seiten).
Klein, Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule, Studium und Beruf, Stuttgart: Klett 2013 (Neubearbeitung auf Basis der ersten Auflage, 18. Druck). (313 Seiten).
Aus dieser Übersicht ergibt sich immerhin das von 1956 bis 1995 praktisch un­verändert währende Erscheinen der Französischen Sprachlehre von Klein & Strohmeyer. Es zeigt sich auch, dass Hartmut Kleineidam von 1979 bis zu seinem Tode im Jahre 1990 an der Langzeit-Grammatik beteiligt war.

3.3 'Langzeit'-Grammatiken in historischer Perspektive
Die beiden Langzeit-Werke Meidinger und Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam sind nur begrenzt vergleichbar. Beide sind zwar so­wohl Grammatik und lehrwerkbezogenes Kompendium. Die unter dem Namen Meidinger publizierten Ausgaben sind jedoch eher ein grammatikbasiertes Lehr­werk des Französischen für Deutsche; die Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein  / Hartmut Kleineidam ist eine - teilweise ein Lehrwerk begleitende - Sprachlehre des Französischen für Deutsche. Meidinger verdankt seinen Erfolg der mühelosen Verwendbarkeit durch einen halbwegs des Französischen kundi­gen Sprachmeister, ohne dass Methodik oder französische Sprache im Laufe der Zeit wesentlich verändert werden. Der Erfolg der Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam kann dadurch erklärt werden, dass sie ei­nerseits den grammatischen Wandel der französischen Sprache einbezieht und andererseits der Entwicklung der neueren deskriptiven Linguistik Rechnung trägt und dabei – im Gegensatz zu den meisten in Frankreich publizierten Grammati­ken – in den letzten Ausgaben zunehmend die gesprochene Sprache berück­sichtigt.


Bibliographie
Bally, Charles (1932). Linguistique générale et linguistique française. Paris: Leroux.
Butzkamm, Wolfgang (1973). Aufgeklärte Einsprachigkeit: zur Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Chomsky, Noam (1966) Cartesian Lingistics: a chapter in the history of rationalist thought. New York: Harper & Row.
Duëz, Nathanaël (1699). Le vrai et parfait Guidon de la Langue Françoise renouvellé: avec quatre dialogues Français & Alemands, et un Bouquet de Sentences. Der Rechte / Vollkommene / und Erneuerte WEG=WEISER Zu der Frantzösischen Sprach: Sampt vier Frantzösischen und Teutschen Gesprächen / und etlichen außerlesenen Sprüchen. Cöllen: Bey Wilhelm Metternich.
Meidinger, Johann Valentin (1790). Praktische Französische Grammatik wodurch man diese Sprache auf eine ganz neue und sehr leichte Art in kurzer Zeit gründlich erler­nen kann. Fünfte durchaus verbesserte und vermehrte, auch mit vielen Briefen und einer Anweisung zur französischen und deutschen Titulatur versehene Ausgabe. Frankfurt und Leipzig.
Neuner, Gerhard (2003). Vermittlungsmethoden: Historischer Überblick. In: Bausch, Karl-Richard, Herbert Christ & Hans-Jürgen Krumm (Eds.) (2003) [11989]. Handbuch Fremdsprachenunterricht. 4., vollständig neu bearbeitete Auflage. Tübingen / Basel: Francke, 225-234.
Spillner, Bernd (1985). Französische Grammatik und französischer Fremdsprachen­unterricht im 18. Jahrhundert. In: Dieter Kimpel (ed.) (1985). Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Vorträge der sechsten Jahrestagung der Deutschen Ge­sellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, vom 18.-20. November 1981 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Hamburg, 133-155.
Strohmeyer, Fritz (1910). Der Stil der französischen Sprache. Berlin: Weidmann.
Viëtor, Wilhelm [=Quousque Tandem] (1882). Der Sprachunterricht muss umkehren!: ein Beitrag zur Überbürdungsfrage. Heilbronn: Henninger.

Weller, Franz-Rudolf (1981). Formen und Funktonen der Übersetzung im Fremd­sprachenunterricht – Beispiel Französisch. In: Karl-Richard Bausch & Franz-Rudolf Weller (edd.) (1981). Übersetzen und Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main: Diesterweg, 233-296.