‚Langzeit‘-Grammatiken
für den Französischunterricht
Bernd
Spillner (Duisburg-Essen)
Abstract
Nach
einer Übersicht zu den Unterschieden zwischen Erstsprachenerwerb und
Fremdsprachenvermittlung werden mit der Konversationsmethode und
der Regel-Über-setzungs-Methode die dominierenden Verfahren des
traditionellen Fremdsprachen-unterrichts beschrieben. Anschließend
werden zwei ‚Langzeit'-Grammatiken
des Französischunterrichts gegenübergestellt: die unter dem
Namen Meidinger
publizierten Lehrwerke und die Grammatik-Linie Strohmeyer
- Klein - Kleineidam.
Der Erfolg von Meidinger wird auf die mühelose Anwendbarkeit durch
den die Regeln abfragenden Lehrer zurückgeführt, die
Langzeitwirkung der Linie Strohmeyer
- Klein - Kleineidam
auf die jeweilige Rezeption der neueren Linguistik und die
Rückkoppelung an ein sich entwickelndes Sprachlehrwerk.
1
Einleitende Bemerkungen
Im
Fremdsprachenunterricht gibt es einige ‚Grammatiken‘, die sich
im Unterschied zu vielen kurzlebigen Lehrwerken erstaunlich
lange gehalten haben. Mit Grammatik kann dabei ein
Fremdsprachenlehrwerk gemeint sein. Der Terminus kann sich aber auch
auf eine deskriptive oder normative Sprachlehre beziehen, die unter
Umständen als Referenzwerk oder als Beiheft zu einem
Sprachlehrwerk konzipiert ist oder als solches verwendet werden
kann. Die didaktische Funktion solcher ‚Grammatiken‘ -
insbesondere bei solchen mit einer langen Lebensdauer - kann sich
dabei sehr wohl ändern. Dies hängt vornehmlich von der historisch
sich wandelnden Funktion der Sprachdidaktik zusammen.
Die
Fremdsprachdidaktik ist in ihrer Geschichte keineswegs immer
kommunikativ orientiert gewesen. Auch eine Unterscheidung
zwischen Muttersprache und Fremdsprache ist durchaus nicht immer
vollzogen worden. Gegenwärtig besteht in der Sprachvermittlung
jedoch Konsens darüber, dass grundsätzlich zwischen
Muttersprachenerwerb und Fremdsprachenvermittlung unterschieden
werden muss. Ob beim Lerner die beiden Erwerbsprozesse kognitiv
verbunden oder streng getrennt verlaufen, wird in der
Spracherwerbsforschung und in der Psycholinguistik kontrovers
diskutiert. Einigkeit besteht darüber, dass zwischen beiden
Lerngebieten wichtige Unterschiede bestehen:
Muttersprachenerwerb
Erstsprachenerwerb
L1
|
Fremdsprachenvermittlung
Zweitsprachenerwerb
L2
|
Lernalter:
0-10 Jahre
|
Ab
etwa 8 Jahren
|
Lerndauer:
täglich, 10 Jahre
|
2
bis 5 Stunden wöchentlich, 3 bis 5 Jahre
|
Sprachliches
Vorwissen: ?
|
L1
|
Umgebung
/ Situation: Muttersprachler / Familie / Kindergarten / Schule
|
Klassenraum
|
Kognitive
Voraussetzungen: keine
[‚eingeborene
Ideen‘, ‚Grammatikkompetenz‘: empirisch nicht nachgewiesen]
|
Strukturen
der L1
[Kontrastivität,
Transfer]
|
Lernschwerpunkte:
Alphabetisierung, Schreibunterricht
|
Alle
Fertigkeiten [auch Aussprache, Grundwortschatz]
|
Tab.
1: Vergleich Muttersprachenerwerb und Fremdsprachenvermittlung
Ob
beim Muttersprachenerwerb sprachliches Vorwissen besteht, hängt von
sprachtheoretischen Annahmen ab. Die Frage nach grammatischem oder
lexikalischem Vorwissen ist zu bejahen, wenn – wie von den
durch Chomsky unter Rückgriff auf Descartes postulierten –
eingeborenen Ideen ausgegangen wird (Chomsky 1966). Der empirische
Nachweis ist jedoch sehr schwach und bestreitbar.
Die
Linguistik geht davon aus, dass menschliche (natürliche) Sprache -
historisch und methodisch - zunächst gesprochene Kommunikation ist.
In einer Reihe von Sprachen / Kulturen wird noch heute nur gesprochen
kommuniziert. Erst später wird für bestimmte Zwecke (Dokumentation,
Rechtssprache, Traditionssicherung) eine schriftliche Fixierung
eingeführt. Ähnliche Konzeptionen gibt es auch in der
Fremdsprachendidaktik. In ihrer Geschichte hat es aber zwei
Richtungen gegeben (Tab. 2):
Fremdsprachendidaktik
|
|
Gesprochene
Sprache
|
Geschriebene
Sprache
|
Konversationsmethode
|
Regel-Übersetzungs-Methode
|
in
Europa bereits im 17. Jahrhundert, in der Didaktik endgültig seit
Beginn des 20. Jahrhunderts
|
im
18. Und 19. Jahrhundert
|
Muttersprachliche
L2-Lehrer oder Sprach-Assistenten; Gespräche
|
L1-Lehrer;
Auswendiglernen von grammatischen Regeln; schriftliche Texte;
Übersetzung in die Zielsprache mit Übersetzungshilfen;
Unterrichtssprache: Muttersprache der Lerner
|
in
den USA seit etwa 1943/1944
|
|
Grundlagen:
taxonomischer Strukturalismus, Behaviorismus; Methoden: Pattern
Drill, Wiederholungsübungen, Strukturübungen
|
|
Tab.
2: Fremdsprachdidaktik
In der heutigen Fremdsprachendidaktik gilt das Primat der gesprochenen Sprache. Praktisch zeigt sich dies in Partnerarbeit, Rollenspielen, Dialogen und Gruppenarbeit (statt Frontalunterricht). Umstritten ist, ob die Sprachvermittlung einsprachig in der Zielsprache durchzuführen ist (um kontrastiv bedingten negativen Transfer zu vermeiden) oder zweisprachig. Gegenwärtige Tendenz ist eine aufgeklärte Einsprachigkeit (Butzkamm 1973), die Erklärungen, Wortschatzvermittlung
etc. auch muttersprachlich zulässt. Übersetzungsübungen werden
nicht als Lehrmethode, wohl aber als Verstehenssicherung und als
Erfolgskontrolle zugelassen (zur Frage des Einsatzes von
Übersetzungen im Fremdsprachenunterricht vgl. Weller 1981).
2
Fremdsprachenvermitlungsmethoden
Vereinfacht
gesagt, hat es bis zum 18. Jahrhundert nur zwei Methoden der
fremdsprachlichen Unterweisung gegeben. Dies stellt bereits
Françisco Roux 1746 in der dritten Ausgabe seiner Gründlichen
Unterweisung zur Französischen Sprache fest:
Es
ist etwas Bekanntes, daß es nicht mehr als zwey Arten giebet, wie
man eine Sprache gehörig erlernen könne. Es geschiehet entweder
ohne Regeln durch den täglichen Umgang mit Personen, die derselben
kundig sind, aus deren Reden die Wörter, deren Bedeutung,
Veränderung und Verbindung mit anderen man erlernet: oder es
geschieht durch Beihülfe einiger Regeln, nach denen die
Veränderungen und Verbindungen der Wörter unter einander
eingerichtet werden. Der erste Weg ist vor Kinder, denen es noch an
der Fertigkeit fehlet, von allgemeinen Sätzen auf das Besondere zu
schliessen, der leichteste, ob es schon dabey mit der Erlernung
der Sprache etwas langsam zugehet. Bei Erwachsenen dagegen ist der
letzte Weg der sicherste, kürzeste, deutlichste und der beste.
(Spillner 1985, 147 und 154)
2.1
Die Konversations- oder Parliermethode
Aus
der Imitation der mündlichen Fremdsprache in der Umgebung von
Sprechern hat sich in der Fremdsprachendidaktik des frühen 18.
Jahrhunderts die Konversationsmethode oder auch Parliermethode
entwickelt. Sie geht historisch zurück auf die mündlich
betriebene Kommunikation im höfischen Bereich und in den Salons in
Frankreich, wo es galt, über bestimmte Themen in Gesellschaft
parlieren zu können. Im Vordergrund stand also die gesprochene
Sprache, für die in den Lehrbüchern nach den gefragten Gebieten
Musterdialoge angeboten wurden. Sie konnten auswendig gelernt und in
der Gesellschaft bei passender Gelegenheit im Gespräch reproduziert
werden. Der Fremdsprachenunterricht geht also vom konkreten
mündlichen Sprachgebrauch aus, den der Schüler imitativ
nachvollziehen soll. Damit werden einige Elemente vorweggenommen, die
im 20. Jahrhundert im Immersionsverfahren ausgebaut werden.
Für die Lehrbücher müssen die wichtigsten Dialogelemente angeboten
werden, z.B. ein Gespräch in einem Restaurant:
-
Monsieur Louïs, voila de tres délicate venaison, parfaitement bien acom-modée.Herr Ludwig / das ist außbündig Wildpret/trefflich wohl zugerichtet.En voila du maigre & du gras. Cherchez vôtre apétit.Das ist Magers und Fettes. Suchet euern Appetit.Pour moi, je mange de tout ce qu’on mange.Was mich anlangt/ich esse alles was zu essen ist.Mon moulin moud toute sorte de grain.Meine Mühle mahlet allerley GeträydeIl faut que je me ruë sur ce hachis.Ich muß mich an dieses klein gehackte machen.Et puis je prendrai à ce rôti.Und darnach will ich über diesen Braten machen.Oui, mettez vous après.Ja/machet euch drüber her.Il y a à prendre & à mordre.Es ist daran zu nehmen und zu beissen.Encore n’est-il viande que de chair.Es ist doch keine bessere Speise als Fleisch.Chair fait chair, & poisson poison.Fleisch macht Fleisch/und Fische Gifft.
(Duëz 1699, 444)
Hier
werden nicht nur Konversationselemente des Essens vermittelt, sondern
auch sprichwörtliche Phraseologismen.
Die
Lehreinheiten sind also kontextualisiert und thematisch auf typische
und häufige Konversationsabläufe bezogen, z.B.:
De
la Promenade, de la Visite, du Logement, & d’aller
coucher. d’aller coucher
|
Vom
Spatzieren gehen/von der Besuchung/von der Besuchung/vom
Lose-ment/und vom Schlaffen gehen.
|
Hé
bien, Messieurs, à quoi passeront-nous l’après dinée?
|
Nun/ihr
Herren/womit wollen wir den Nachmittag zubringen?
|
Nous
la passerons bien à quelque Chose, atendez seulement.
|
Wir
wollen ihn wohl mit etwas vertreiben/wartet nur.
|
Que
ferons-nous donc?
|
Was
wollen wir dann thun?
|
Il
nous faut faire quelque chose, pour nous divertir un peu.
|
Wir
mussen etwas thun/ uns ein wenig zu erlustigen.
|
La
récréation est fort bonne après le repas.
|
Die
erlustigung ist sehr gut nach der Mahlzeit.
|
Voulons-nous
jouër à la paume ou bien au balon?
|
Wollen
wir im Ballhauß spielen/oder im Ballonen?
|
Ces
éxercices-là sont trop violens incontinent après diner.
|
Diese
Ubungen seynd gar zu hart stracks auff das Essen.
|
Joüons
plûtôt aux cartes, ou aux dames.
|
Lasset
uns lieber mit Karten oder im Bret spielen.
|
Sçavez-vous
bien jouër aux échecs?
|
Könnet
ihr auch im Schach spielen?
|
Un
peu, mais je n’aime pas ce jeu-là. Et pourquoi non?
|
Ein
wenig/aber ich spiele es nicht gern. Warum nicht?
|
Parce
qu’il faut trop songer.
|
Weil
man zu viel nachdenken muß.
|
|
(Duëz
1699, 456f.)
|
Diese
Methode ist kommunikativ, textorientiert und auf die mündliche
Sprache bezogen. Es ergeben sich jedoch einige Probleme. Wenn die
Dialoge auswendig gelernt werden, ergibt sich die Notwendigkeit, sie
je nach Kommunikationsgegenstand variabel abzuwandeln. Für die
korrekte Aussprache gibt es noch kein verlässliches System der
phonetischen Umschrift. Die Lehrbücher sind in diesem Punkt nicht
für das Selbstlernen geeignet, sondern bedürfen eines kundigen
Lehrers. Nicht ohne Grund verweisen die französischen Sprachmeister,
die als Reformierte nach der Revokation des Ediktes von Nantes (1685)
oder als Adlige nach der französischen Revolution Frankreich
verlassen mussten und im deutschen Sprachraum unterrichteten,
darauf, dass die deutschen Französischlehrer die französische
Phonetik oft nur schlecht beherrschen. Schließlich wird durch das
mühsame Memorieren der Dialoge die Beherrschung der Grammatik
vernachlässigt.
2.2
Die
Regel-Übersetzungs-Methode
Die
sogenannte Regel-Übersetzungs-Methode ist das genaue
Gegenteil der Konversationsmethode. Sie geht von der geschriebenen
Sprache aus. Die beiden Haupttätigkeiten des Fremdsprachenlerners
sind das Auswendiglernen der grammatischen Regeln und das zunächst
schriftliche und dann mündliche Übersetzen von Texten in die
Zielsprache und dann von der Zielsprache in die Muttersprache.
Verfasser und am häufigsten gedruckter Vertreter dieser Methode
ist Johann Valentin Meidinger (1756 - 1822), der seine Practische
Französische Grammatik‘ zuerst im Jahre 1783 im Selbstverlag
publizierte. Im Jahre 1857, also 35 Jahre nach Meidingers Tod,
erschien die 37. Ausgabe. Ferner erschienen noch unter seinem Namen
von anderen Grammatikern bearbeitete Auflagen (z.B. von Sanguin
31808, Jakob Wießner 1840, A. Büchner (1857) und Der
kleine Meidinger (1858), bearbeitet von J. Ullmann).
Bereits
im Vorwort zur ersten Auflage (1783), in späteren Auflagen
nachgedruckt, verkündete Meidinger seine Sprachlehrmethode:
Die
französische Sprache durch Regeln zu erlernen ist, wie jedem Kenner
bekannt, der kürzeste Weg, den man nur einschlagen kann. Ja sogar um
unsere Muttersprache recht zu können, müssen wir sie in etwas
studiren; wie viel mehr eine fremde? – Ich kenne verschiedene
Persohnen, die acht, zehen bis zwölf Jahre Französisch gelernt
habe, und mit all ihrem Fleis, sehr fehlerhaft sprechen, und noch
fehlerhafter schreiben. Allein es ist nicht zu verwundern; denn sie
wissen nicht einmal (weil man es ihnen niemals gesagt, und weil sie
die Grammatik nicht gelesen, oder wenn sie sie gelesen, nicht behörig
verstanden haben,) was ein Nomen, was decliniren, was ein
Verbum, was conjungiren etc. ist. (…) Da ich nun befand, daß
die so sehr nöthig zu wissenden Regeln, in allen mir bekannten
Grammatiken, zu weitläufig, (…) zu undeutlich, zu schwer und zu
verworren vorgetragen sind, sich auch darüber viele meiner
Schüler (…) beklagten, so entschloß ich mich, um ihnen das Lernen
und mir das Lehren leichter zu machen, denselben den ganzen Syntax,
nach vorhergeschehener deutlicher Erklärung, durch leichte Aufgaben
auf eine sehr faßliche Art beizubringen.
(Meidinger
1790, Vorrede zur ersten Auflage)
Die
Schüler lernen die in der Grammatik aufgeführten Regeln mit den
grammatischen Termini auswendig; der Lehrer fragt die Regeln ab;
die Schüler übersetzen im Buch abgedruckte (für die Übersetzung
arrangierte) Texte in die Zielsprache; der Lehrer korrigiert die
Übersetzungen. Beim Übersetzen sollen die Schüler die gelernten
Regeln ‚anwenden‘ (wobei unklar ist, was dabei ‚Anwendung‘
ist und worin der Lernprozess besteht).
Warum
hat die Regel-Übersetzungs-Methode solchen Erfolg gehabt, und warum
haben sich wichtige Elemente dieses Verfahrens bis ins 20.
Jahrhundert erhalten? Der Grund dafür liegt sicher nicht im
Lernerfolg bei den Schülern. Die mündliche Sprachbeherrschung ist
stark vernachlässigt. Die Aussprache lässt sich durch Übersetzen
und Auswendiglernen von grammatischen Regeln nicht erlernen, obwohl
Meidinger den Anschein erweckt:
Wenn
einer noch nicht Französisch lesen kann, so muß er sich ,wie sich’s
wohl verstehet, die Lesregeln wohl bekannt machen. Wer nun in kurzer
Zeit lesen lernen will, der lerne die Regeln und ihre Exempel
auswendig: ist dieß geschehen, so durchgehe er aufmerksam was auf
dieselbe folget, und lese, mit Hülfe seines Lehrers, ein
Gespräch nach dem andern, lerne mit unter den ersten Artikel
(Articulum definitum), deklinire mündlich und schriftlich
nach, und gebe wohl auf das Genus, den Numerum und den
Gebrauch der Casuum acht.
(Meidinger
1790, Vom Gebrauch dieser Grammatik)
Der
Grund für den großen Erfolg der Meidinger-Methode kann nur daran
gelegen haben, dass sie dem Lehrer die geringste Mühe abfordert. Der
Schüler muss die Regeln nach der schriftlichen Vorlage der Grammatik
auswendig lernen. Der Lehrer hat lediglich das Memorieren (auf
deutsch) zu kontrollieren. Der Lehrer muss nicht einmal die
französische Aussprache gut beherrschen. Der Schüler hat die in der
Grammatik vorgegebenen arrangierten und auf die Regeln bezogenen
Texte schriftlich in die Zielsprache zu übersetzen. Der Lehrer muss
bei der Korrektur der schriftlichen Übersetzungen nicht einmal die
Fehlerursachen angeben:
Um
das Uebersetzen der Aufgaben zu erleichtern, habe ich im Anfange die
deutsche Construction etwas nach der französischen eingerichtet.
Wenn also ein Schüler behörig acht giebt, wird er sie ohne Fehler
übersetzen; sollte er dennoch solche machen, so corrigire man sie
ihm nicht, sondern unterstreiche sie mit rother Dinte, und verweise
ihn auf die Regel, damit er selbst einsehen und corrigiren lerne.
(Meidinger
1790, Vom Gebrauch dieser Grammatik)
Kein
französisches Lehrwerk dürfte für einen Lehrer weniger Aufwand und
Mühe bereiten als eine Meidingersche Grammatik. Es kommt kaum von
ungefähr, dass die Fehlerkorrektur bis heute ein
vernachlässigter Bereich der Fremdsprachendidaktik ist. Für den
Schüler steht das Wissen über grammatische Strukturen der
Zielsprache im Vordergrund, nicht deren praktische (und mündliche)
Beherrschung. Um so verblüffender ist der langanhaltende Erfolg der
Meidingerschen Lehrwerke.
2.3
Fremdsprachendidaktik im 20. Jahrhundert
Gegen
die Dominanz der Regel-Übersetzungsmethode im
Fremdsprachenunterricht wird erst 1882 entschieden reagiert von
Viëtor in seinem berühmten Traktat ‚Der Sprachunterricht muß
umkehren!‘. Darin wird für den Vorrang der mündlichen
Sprachbeherrschung gegenüber der Schriftlichkeit und dem
Regelwissen plädiert. Allerdings setzt sich erst langsam in der
sogenannten ‚Direkten Methode‘ eine kommunikative
Auffassung der Fremdsprache und der Vorrang der mündlichen
Gegenwartssprache durch. In einigen Punkten wird so wieder auf die
Konversationsmethode zurückgegriffen. Erst im 20. Jahrhundert werden
audiolinguale Ansätze entwickelt und in den USA nach 1940
linguistische Methoden des taxonomischen Strukturalismus
(Segmentierung und Klassifizierung) eingeführt (dazu u.a.
Neuner 2003: 228ff).
Eine
Abkehr von den didaktischen Ansätzen der ‚Direkten Methode‘
wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht, wenn rein
linguistische Modelle der Dependenzgrammatik und der Generativen
Grammatik dem Fremdsprachenunterricht aufgezwungen werden.
3.
'Langzeit'-Grammatiken
3.1
Die 'Langzeit'-Grammatik von Fritz Strohmeyer bis Hartmut Kleineidam
Auch
nach den vielbeachteten Forderungen Viëtors schwenkt die
Fremdsprachendidaktik keineswegs sofort auf den Vorrang des
mündlichen Fremdsprachenerwerbs um. Lediglich das
Auswendiglernen von Regeln und die Übersetzung als Lernmethode
verlieren nach und nach ihre führende Stellung in der
Fremdsprachenvermittlung.
Dies
gilt auch für eine weitere ‚Langzeit‘-Grammatik im
Französischunterricht, die weitgehend parallel zum Lehrwerk Études
françaises des Klett-Verlages entwickelte Grammatik/Sprachlehre
der Linie Fritz Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut
Kleineidam. Sie reicht von 1921 bis in die aktuelle Gegenwart.
Allein die Französische Sprachlehre von Klein und Strohmeyer
erscheint von 1956 bis 1995, wie sich bereits am gleichgebliebenen
Seitenumfang von 200 Seiten ablesen lässt, ohne tiefgreifende
Veränderungen.
Leider
ist eine gründliche Analyse der Linie Fritz
Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut
Kleineidam bislang Desiderat. Eine solche Übersicht müsste auf
alle Mitabeiter eingehen, die Beziehungen zum Lehrwerk Études
françaises dokumentieren, den Wandel in der linguistischen
und didaktischen Konzeption herausarbeiten und in Beziehung zu
den ministeriellen Richtlinien dokumentieren. Zu beachten wären auch
die Beziehungen zwischen grammatischem Hauptwerk und didaktischen,
auf das Lehrwerk Études françaises bezogenen Kurzfassungen.
Es wären nach Möglichkeit auch die Intentionen des Verlages zu
berücksichtigen und die Persönlichkeiten der drei Hauptpersonen zu
fokussieren. Dabei wären etwa die heute kaum bekannten Leistungen
von Fritz Strohmeyer hervorzuheben. Sein Werk "Der
Stil der französischen Sprache" von 1910 ist zu
Unrecht heute vergessen. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine
französische Stilistik, sondern um ein Handbuch der französischen
Grammatik (also einen Vorläufer der späteren Bände), das das Wesen
der französischen Sprache im Kontrast zur deutschen Sprache
analysiert – ein methodischer Ansatz, der erst 1932 von Charles
Bally wieder aufgegriffen wurde.
Dies
könnte bis zu kuriosen Kleinigkeiten gehen wie der Tatsache, dass im
OPAC mehrerer deutscher Universitätsbibliotheken Hartmut Kleineidam
als Mitverfasser des grammatischen Werkes bis heute als
Kleinadam figuriert.
Mangels
einer gründlichen Autopsie und Würdigung der Langzeit-Linie Fritz
Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut
Kleineidam kann immerhin das Werk und seine Entwicklungsstufen an
Hand der wichtigsten Ausgaben nachvollzogen werden:
Strohmeyer;
Fritz: Französische Grammatik auf sprachhistorisch-psychologischer
Grundlage, Leipzig: Teubner 1921. (VI, 298 Seiten).
Strohmeyer;
Fritz: Französische Grammatik auf sprachhistorisch-psychologischer
Grundlage, 3. durchgesehene Auflage, Leipzig: Teubner 1949. (VIII,
292 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Etudes françaises. Französische
Sprachlehre, Stuttgart: Klett [1956]. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1957. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm: Etudes françaises. Kurzgrammatik, Stuttgart: Klett
1959 (96 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre.
Etudes françaises, Stuttgart: Klett 1960. (200 Seiten).
Erdle-Hähner,
R. & H.-W. Klein (unter Mitwirkung von Charles Muller): Études
françaises. Für Mittel- und Realschulen. Zweibändiger Lehrgang für
Französisch als 2. Fremdsprache, 2 Bde., Stuttgart: Klett 1962/63
(Grammatisches Beiheft (49 Seiten)).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1970. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1975. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Französische Grundgrammatik
für Schule und Weiterbildung, Stuttgart: Klett 1979. (129 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1982. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen
Französisch für Schule und Studium, Stuttgart: Klett 1986. (312
Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Etudes françaises.
Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1992. (160 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen
Französisch für Schule und Studium, Stuttgart / Berlin : Klett
1994. (313 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Etudes françaises.
Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1995. (160 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1995. (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Fritz Strohmeyer: Französische Sprachlehre,
Stuttgart: Klett 1995 (erste Auflage, 34. Druck). (200 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam / Wolfgang Fischer: Etudes
françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 1998. (192
Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: : Grammatik des heutigen
Französisch für Schule und Studium, Stuttgart / Berlin : Klett
2004. (313 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm, Hartmut Kleineidam & Wolfgang Fischer: Etudes
françaises. Grundgrammatik, Stuttgart / Berlin: Klett 2004. (192
Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm, Hartmut Kleineidam & Rita Erdle-Hähner: Grammatik
des heutigen Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule,
Studium und Beruf, Stuttgart / Berlin: Klett 2008. (313 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen
Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule, Studium und
Beruf, Stuttgart / Berlin: Klett 2011 (Neubearbeitung auf Basis der
ersten Auflage, 16. Druck). (313 Seiten).
Klein,
Hans-Wilhelm & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen
Französisch: das bewährte Standardwerk für Schule, Studium und
Beruf, Stuttgart: Klett 2013 (Neubearbeitung auf Basis der ersten
Auflage, 18. Druck). (313 Seiten).
Aus
dieser Übersicht ergibt sich immerhin das von 1956 bis 1995
praktisch unverändert währende Erscheinen der Französischen
Sprachlehre von Klein & Strohmeyer. Es zeigt sich auch, dass
Hartmut Kleineidam von 1979 bis zu seinem Tode im Jahre 1990
an der Langzeit-Grammatik beteiligt war.
3.3 'Langzeit'-Grammatiken in historischer Perspektive
Die
beiden Langzeit-Werke Meidinger
und Fritz
Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut
Kleineidam sind nur
begrenzt vergleichbar. Beide sind zwar sowohl Grammatik und
lehrwerkbezogenes Kompendium. Die unter dem Namen Meidinger
publizierten Ausgaben sind jedoch eher ein grammatikbasiertes
Lehrwerk des Französischen für Deutsche; die Linie Fritz
Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut
Kleineidam ist eine -
teilweise ein Lehrwerk begleitende - Sprachlehre des Französischen
für Deutsche. Meidinger verdankt seinen Erfolg der mühelosen
Verwendbarkeit durch einen halbwegs des Französischen kundigen
Sprachmeister, ohne dass Methodik oder französische Sprache im Laufe
der Zeit wesentlich verändert werden. Der Erfolg der Linie Fritz
Strohmeyer / Hans-Wilhelm Klein / Hartmut Kleineidam kann
dadurch erklärt werden, dass sie einerseits den grammatischen
Wandel der französischen Sprache einbezieht und andererseits der
Entwicklung der neueren deskriptiven Linguistik Rechnung trägt und
dabei – im Gegensatz zu den meisten in Frankreich publizierten
Grammatiken – in den letzten Ausgaben zunehmend die
gesprochene Sprache berücksichtigt.
Bibliographie
Bally, Charles (1932). Linguistique
générale et linguistique française.
Paris: Leroux.
Butzkamm, Wolfgang
(1973). Aufgeklärte
Einsprachigkeit: zur Entdogmatisierung der Methode im
Fremdsprachenunterricht.
Heidelberg: Quelle & Meyer.
Chomsky, Noam
(1966) Cartesian
Lingistics: a chapter in the history of rationalist thought.
New York: Harper & Row.
Duëz,
Nathanaël (1699). Le
vrai et parfait Guidon de la Langue Françoise renouvellé: avec
quatre dialogues Français & Alemands, et un Bouquet de
Sentences. Der Rechte / Vollkommene / und Erneuerte WEG=WEISER Zu der
Frantzösischen Sprach: Sampt vier Frantzösischen und Teutschen
Gesprächen / und etlichen außerlesenen Sprüchen.
Cöllen: Bey Wilhelm Metternich.
Meidinger, Johann Valentin (1790).
Praktische Französische
Grammatik wodurch man diese Sprache auf eine ganz neue und sehr
leichte Art in kurzer Zeit gründlich erlernen kann. Fünfte
durchaus verbesserte und vermehrte, auch mit vielen Briefen und einer
Anweisung zur französischen und deutschen Titulatur versehene
Ausgabe. Frankfurt und
Leipzig.
Neuner, Gerhard
(2003). Vermittlungsmethoden: Historischer Überblick. In: Bausch,
Karl-Richard, Herbert Christ & Hans-Jürgen Krumm
(Eds.) (2003) [11989].
Handbuch
Fremdsprachenunterricht.
4., vollständig neu bearbeitete Auflage. Tübingen / Basel: Francke,
225-234.
Spillner, Bernd (1985). Französische
Grammatik und französischer Fremdsprachenunterricht im 18.
Jahrhundert. In: Dieter Kimpel (ed.) (1985). Mehrsprachigkeit
in der deutschen Aufklärung. Vorträge der sechsten Jahrestagung der
Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten
Jahrhunderts, vom 18.-20. November 1981 in der Herzog August
Bibliothek in Wolfenbüttel.
Hamburg, 133-155.
Strohmeyer, Fritz (1910). Der
Stil der französischen Sprache.
Berlin: Weidmann.
Viëtor, Wilhelm [=Quousque Tandem]
(1882). Der
Sprachunterricht muss umkehren!: ein Beitrag zur Überbürdungsfrage.
Heilbronn: Henninger.
Weller,
Franz-Rudolf (1981). Formen
und Funktonen der Übersetzung im Fremdsprachenunterricht –
Beispiel Französisch.
In: Karl-Richard Bausch & Franz-Rudolf Weller (edd.) (1981).
Übersetzen und Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main:
Diesterweg, 233-296.