Vorwort
Am 1. März 2014 wäre der renommierte Romanist und Sprachwissenschaftler Hartmut Kleineidam 75 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass fand am 7. März 2014 ein Gedenksymposium zu seinen Ehren statt. An diesem Symposium, das an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken am Tagungsort Villa Europa stattfand, nahmen nicht nur Hartmut Kleineidams ehemalige Kollegen, sondern auch ehemalige Studierende und natürlich seine Freunde teil. Ehrengäste waren seine Witwe Gisela Kleineidam sowie seine Söhne Dr. Uwe Kleineidam und Dr. Gero Kleineidam.
Die Veranstaltung bestand aus einem ersten Teil zum Gedenken an Hartmut Kleineidam, der Reminiszenzen und persönlichen Worten gewidmet war und einen Rückblick auf Hartmut Kleineidams Schaffen und seine Tätigkeit als Hoch­schullehrer gestattete, sowie einem zweiten - akademischen - Teil, in dessen Rahmen wissenschaftliche Vorträge gehalten wurden. Die vorliegende Gedenk­schrift umfasst beide Teile - die Reminiszenzen einerseits und die hier als Fach­aufsätze vorgelegten Vorträge des Symposiums andererseits -, ist dabei jedoch um einige Beiträge erweitert, die von ehemaligen Kollegen und Freunden Hartmut Kleineidams beigesteuert wurden, die aus diesem oder jenem Grund leider nicht an dem Gendenksymposium für Hartmut Kleineidam teilnehmen konnten.
Hatmut Kleineidam (1939-1990) war einer der herausragenden Romanisten seiner Zeit. Als Lehrstuhlinhaber für Romanische Sprachwissenschaft zunächst an der  Universität Dortmund (1976-1980) und danach an der damaligen Univer­sität - Gesamthochschule - Duisburg (1980-1990) tat er sich durch zahlreiche Fachveröffentlichungen hervor und ist besonders durch die zusammen mit sei­nem Lehrer veröffentliche Grammatik des heutigen Französisch einem breiten Publikum bis heute in Erinnerung geblieben.
Am 1. März 1939 in Landeshut (Schlesien) geboren, studierte Hartmut Kleineidam1 ab dem Jahr 1957 an der Universität Münster die Fächer Roma­nistik und Anglistik mit dem Ziel des Lehramtes. Im Alter von nur 23 Jahren schloss er sein Studium mit Auszeichnung ab, ging danach als Assistenzlehrer nach Frankreich und nahm schließlich bei Hans-Wilhelm Klein in Münster eine Stelle als Wissenschaftlicher Assistent ein. Nach weiteren Studien in Frankreich folgte er Hans-Wilhelm Klein im Jahre 1965 nach Gießen und promovierte dort im Jahre 1966 mit einer Textedition zum Altfranzösischen2.
Von 1968 bis 1976 arbeitete Hartmut Kleineidam zunächst als Studienrat und später als Akademischer Rat am Romanischen Seminar der Ruhr-Universität Bochum. Im Jahre 1976 nahm er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für die französi­sche Sprache und ihre Linguistik an die Universität Dortmund an. Aufgrund der dortigen Situation, in der es in Dortmund noch keine Romanistik gab und die Schaffung einer solchen auch zu einem späteren Zeitpunkt im Unterschied zu früheren Planungen nicht mehr realistisch war, wechselte er im Jahre 1980 mit seiner Stelle an die damalige Universität - Gesamthochschule - Duisburg auf den Lehrstuhl Romanistik / Linguistik.
Es folgten Jahre höchster Produktivität in den Bereichen Linguistik und Fremd­sprachendidaktik, in der Hartmut Kleineidam es verstand, wissenschaftliche Forschung und attraktive, für seine Studierenden verständliche Lehre mitein­ander in Einklang zu bringen. Trotz seiner zahlreichen Publikationen zur Sprach­wissenschaft des Französischen und Spanischen ragt über all sein Schaffen die von ihm zusammen mit Hans-Wilhelm Klein verfasste Grammatik des heutigen Französisch hinaus. Diese Grammatik, die die Nachfolgerin des Werkes Franzö­sische Sprachlehre (1958) von Fritz Strohmeyer und seinem damaligen Schüler Hans-Wilhelm Klein war, stellte somit zwar eine direkte personale Kontinuität in dem Sinne dar, dass jeweils ein akademischer Lehrer mit seinem Schüler die jeweilige grammatikographische Arbeit fortsetzte, die Grammatik des heutigen Französisch repräsentierte jedoch eine vollkommene Neuorientierung, die maß­geblich durch Hartmut Kleineidam eingeleitet wurde: Die traditionelle Wort­artengrammatik wurde von ihm in eine Satzgrammatik transferiert, was dem damaligen Stand der Linguistik entsprach. An diesem Punkt blieb Hartmut Kleineidam jedoch nicht stehen, sondern integrierte in diese Satzgrammatik be­reits Anfang der 1980er Jahre Aspekte der Textlinguistik, die damals noch eine sehr junge und zudem nicht unumstrittene Wissenschaft war, und zeigte sich damit im besten Wortsinn als avantgardistisch. Auf diese Weise erhielt die Satz­grammatik mitsamt ihren textgrammatischen Grundzügen in der maßgeblichen Konzeption Hartmut Kleineidams auch Eingang in die Schule, an der - neben der Hochschule - die Grammatik des heutigen Französisch auf Oberstufenniveau Anwendung fand. Nicht zuletzt dem kommerziellen Erfolg dieser Grammatik, von der bis dato etwa 250 000 Exemplare verkauft worden sind, ist es zu verdan­ken, dass sie auch mehr als 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen noch auf dem Markt erhältlich ist und dass die Namen Hans-Wilhelm Klein und Hartmut Kleineidam bis zum heutigen Tag einem breiten Publikum von Lernern des Fran­zösischen bekannt sind - eine Leistung, die für sich spricht.
Dieser Ansatz einer Verzahnung von (linguistischer) Wissenschaft und (fremd­sprachendidaktischer) Praxis war für Hartmut Kleineidam von großer Bedeu­tung. Eine Einstellung zur Linguistik, die sich selbst genügte, ohne über sich selbst hinauszuweisen - was mit dem Schlagwort l’art pour l’art zusammen­gefasst werden kann - lehnte er ab. Für ihn musste die Linguistik auch einen gewissen “sittlichen Nährwert” haben; es musste deutlich werden, dass die Lin­guistik konkrete Relevanz für die Vermittlung und Erlernung von Fremdsprachen hat. Diese Einstellung lebte Hartmut Kleineidam in seiner Lehre: Wie kaum ein Zweiter verstand er es, die - von Studierenden nicht selten als “langweilig” ab­gestempelte - Sprachwissenschaft interessant zu gestalten und ihren Wert aufzuzeigen - für die Transition von der Forschung zur Fremdsprachendidaktik, von dieser hinein in den konkreten Fremdsprachenunterricht und für Hartmut Kleineidams individuelle Schüler nicht zuletzt im Hinblick auf deren eigene Erlernung des Französischen und - in Extension dessen - weiterer Fremdspra­chen. Hinzu kam, dass er die sprachpraktische Seite eines Fremdsprachenstu­diums nie in herabwürdigender Weise betrachtete, sondern den Wert der prakti­schen Vermittlung von Fremdsprachen allzeit hoch einschätzte. Diese Einstellung machte Hartmut Kleineidam - zusätzlich zu seinen persönlichen und mensch­lichen Qualitäten - zu einem allseits geschätzten und hochgradig populären, einem begeisterten und begeisternden Hochschullehrer.
Dieser Ansatz war ein Reflex seiner außergewöhnlichen Beherrschung des Fran­zösischen, die ihresgleichen suchte. Die Worte seines Lehrers Hans-Wilhelm Klein, die dieser in seinem Geleitwort zu der bereits erwähnten, im Jahre 1992 für Hartmut Kleineidam herausgegebenen Gedenkschrift formulierte, sind ein Beleg hierfür:
Ich kenne keinen Romanisten seiner Generation, der das Französische in so meis­terhafter Weise beherrschte wie er. Nie lief er Gefahr, als Didaktiker die sprachli­che Realität aus den Augen zu verlieren. (Klein in Barrera-Vidal, Raupach & Zöfgen 1992: 8)
Mir selbst gegenüber äußerte er einmal den Satz: "Vielleicht ist die Fremdspra­chenvermittlung ja am befriedigendsten" - einen Satz, den nur derjenige aussprechen konnte, der die Fremdsprache meisterhaft beherrschte, und der wusste, welch hohen Wert ein solches sprachliches Können einerseits und die Hinführung der Lernenden zu einer ihrerseits besseren Sprachbeherrschung andererseits darstellen. In dieser außergewöhnlichen, im reinsten Wortsinn vor­bildlichen Meisterung des Französischen lag zudem einer der Motivations­faktoren, die Hartmut Kleineidam auch seinen Studierenden kommunizierte: Motivationsvermittlung durch Kompetenz.
Das für Hartmut Kleineidam veranstaltete Gedenksymposium sollte dazu dienen, diesem außergewöhnlichen Menschen und Wissenschaftler die ihm zukommen­de Ehre zu erweisen und einen Beitrag dazu zu leisten, dass er auch in Zukunft nicht in Vergessenheit geraten wird. Es entstand mit Unterstützung von Frau Gisela Kleineidam, die wir - zusammen mit ihren Söhnen Dr. Uwe Kleineidam und Dr. Gero Kleineidam - als Ehrengäste begrüßen durften.
Dabei hatten wir es mit einem zugleich traurigen und freudigen Anlass zu tun. Traurig war der Anlass deswegen, weil Hartmut Kleineidam bereits vor so vielen Jahren physisch von uns gegangen ist. Freudig war er aus dem Grunde, dass wir alle uns zusammengefunden hatten, um seiner zu gedenken. Dies zeigte, dass er uns allen präsent geblieben ist - menschlich und professionell -, wenn wir an ihn denken, von ihm sprechen und in seinen Werken nachschlagen. Obwohl Hartmut Kleineidam sich durch große Bescheidenheit auszeichnete und nicht gern im Mittelpunkt stand, hätte er sich mit Sicherheit darüber gefreut, dass wir zu seinen Ehren beisammen waren, dass wir viel von früher sprachen und auch zusammen lachten. Ebenso darüber, dass einige Kontakte, die in den Jahren ein wenig abgeflaut oder ganz unterbrochen waren, aus diesem Anlass wieder auf­leben konnten und somit - indirekt durch ihn angeregt - alte Freundschaften intensiviert und sogar einige neue menschliche Beziehungen geknüpft werden konnten. Und nicht zuletzt würde er sich darüber freuen, dass Linguistik und Grammatikographie bei diesem Symposium wissenschaftlich im Zentrum standen.
Dementsprechend ist die vorliegende Gedenkschrift, wie das Symposium auch, in zwei Teile gegliedert – in einen ersten Teil, der dem Gedenken Hartmut Kleineidams gewidmet ist, und einen zweiten - akademischen - Teil, der wissen­schaftliche Artikel zum Thema Grammatikographie und Didaktische Grammatik umfasst3.
Der erste Teil ist Erinnerungen an Hartmut Kleineidam gewidmet, die in persön­lichen Grußworten ihren Ausdruck finden. Hier haben solche Worte ihren Platz, die an Hartmut Kleineidam gerichtet worden wären, wenn er noch physisch unter uns weilen würde. Sie sind naturgemäß bisweilen an Sprache allgemein, dem Französischen im Besonderen und auch der Linguistik orientiert; sie sind jedoch immer von seine Persönlichkeit durchdrungen und machen deutlich, dass er uns alle nachhaltig - und in vielerlei Hinsicht bis auf den heutigen Tag - ge­prägt hat. Die in alphabetischer Reihenfolge abgedruckten Grußworte stammen im Einzelnen von Albert Barrera-Vidal, Micheline & Rupprecht S. Baur, Marianne Gehnen, Klaus Hartenstein, Herbert Music, Christoph Schwarze, Hans Theo Siepe und Bernd Spillner. Hinzu kommen all die Freunde, Kollegen und Schüler Hartmut Kleineidams, die persönlich am Gedenksymposium teilgenommen ha­ben und diejenigen, die aus diesem oder jenem Grunde nicht dabei sein konnten, die jedoch in ihren Gedanken an jenem Tag - und nicht nur an jenem - mit uns verbunden waren. Auch diesen Grußworten wird deutlich, wie sehr Hartmut Kleineidam immer noch im Bewusstsein der Menschen ist, und wie sehr er - auch über jede Wissenschaft und die von ihm geschriebenen Bücher und Grammatiken hinaus - noch immer bei uns allen präsent ist.
Der akademische Teil der vorliegenden Gedenkschrift umfasst elf Beiträge, in de­nen die Bereiche Grammatik und Grammatikographie in synchronischer und diachronischer Sicht, Grammatik und Kommunikation, die Vorstellung und Ana­lyse bestehender Grammatiken sowie die Analyse konkreter, für die Grammati­kographie relevanter Sprachphänomene thematisiert werden. Auf sie sei im Fol­genden schlaglichtartig eingegangen.
Eröffnet wird der akademische Teil vorliegenden Gedenkschrift von Bernd Spillner, der 'Langzeit'-Grammatiken im Hinblick auf den Fremdsprachenunter­richt untersucht. Dabei identifiziert er die Konversationsmethode und die Regel-Übersetzungs-Methode als frequente Verfahren des herkömmlichen Fremdspra­chenunterrichts. Auf diesem Hintergrund analysiert er zwei 'Langzeit'-Gramma­tiken, also solche, die über Jahrzehnte hinweg für den Französischunterricht von Bedeutung waren: die Grammatik, die unter dem Namen Meidinger (1756 - 1822) veröffentlicht wurde und die Grammatik-Linie 'Strohmeyer - Klein - Klein­eidam' (1921 - heute). Dabei arbeitet er die Erfolge beider Grammatiken auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Zeit heraus.
Uwe Dethloff (Saarbrücken), der Reflexionen zum Thema “Kommunikation ohne Grammatik oder Grammatik ohne Kommunikation” anstellt und in diesem Rah­men “Anmerkungen zum Spracherwerb Französisch, ausgehend von Hartmut Kleineidams Grammatik-Kommunikations-Statement von 1982” - so der Unter­titel seines Beitrages - macht. Dethloff - selbst Grammatiker - unterstreicht darin die Bedeutung der Grammatik für die Erlernung von Fremdsprachen und ihre - zumindest unterstützende Rolle - für die Erreichung einer adäquaten Sprach­kompetenz. Diese ist - wie er zu Recht hervorhebt - besonders in Sprachen wie dem Französischen, auf das er sich konkret bezieht, von Bedeutung, da Franzo­sen einen eher hohen Anspruch an Nicht-Muttersprachler anlegen, wenn es um die Beherrschung ihrer eigenen Sprache geht. So ist - beispielsweise im Wirt­schaftsleben - die Erzielung von Verhandlungserfolgen ohne die angemessene Beherrschung des Französischen kaum möglich. Abgesehen von einem fremd­sprachlichen Frühbeginn müsse die Grammatik daher (wieder) ein wichtiger Be­standteil des Fremdsprachenunterrichts sein, da ohne ihre Beherrschung die fremdsprachliche Kommunikation auf akzeptablem Niveau zum Scheitern verurteilt sei und andernfalls "fremdsprachlicher Dilettantismus" das Resultat der Fremdsprachenausbildung sei. Dies gelte sowohl im Allgemeinen als auch für das Saarland im Besonderen, wo derzeit die Realisierung einer umfassenden Zweisprachigkeit Deutsch-Französisch bis zum Jahre 2043 angestrebt wird.
Thomas Tinnefeld (Saarbrücken) untersucht in seinem Beitrag die zeitge­nössische französische Grammatikographie am Beispiel des Passivs. Zu diesem Zweck zieht er die Französische Sprachlehre von Klein & Strohmeyer (1958), die Grammatik des heutigen Französisch von Klein & Kleineidam (1983; 1994) und Die französische Grammatik von Dethloff & Wagner (2002) heran. Das Passiv dient ihm dabei als ein möglicher Gradmesser für die Untersuchung der Frage, ob und, wenn ja, in welcher Weise die in den vergangenen Jahrzehnten zu verzeichnenden Fortschritte der Linguistik in der Fremdsprachendidaktik und der Fremdsprachenvermittlung grammatikographisch umgesetzt worden sind. Dabei arbeitet er wichtige Entwicklungen der Grammatikographie der vergan­genen Jahrzehnte heraus, die in substantielle Fortschritte mündeten, wobei die wohl wichtigste Leistung der Grammatikographie des Passivs darin besteht, die­se Konstruktion nicht als eine beliebige Alternative zum Aktiv, sondern als eine funktional begründbare Ausdrucksoption ausgewiesen zu haben, die in entspre­chenden Kontexten nachgerade zwingend zu verwenden ist.
Klaus Hartenstein (Hamburg) problematisiert Aspekte der Grammatikvermitt­lung im Französischen. Auf der Basis lernwissenschaftlicher Empirik werden Lehrprinzipien und von diesen abgeleitete Lehrverfahren präsentiert, die jeweils anhand von Beispiele illustriert werden. Die hier gegebene Darstellung und die in ihrem Rahmen angestellten Reflexionen ermöglichen es Lehrenden, in ihrem Grammatikunterricht flexibel zu agieren und ihre Schüler individuell zu fördern.
Albert Barrera-Vidal (Lüttich, Belgien) eröffnet den Teil des vorliegenden Bandes, der der Darstellung ausgewählter Phänomene der französischen Gram­matik gewidmet ist. In seinem Beitrag legt er eine Fallstudie zum französischen subjonctif vor, in der er analysiert, inwieweit es notwendig ist, diesen Modus in der Schule zu vermitteln. Ausgehend von einem Plädoyer für die Notwendigkeit von Grammatik und Grammatikunterricht, stellt er jedoch ebenso die Notwen­digkeit heraus, dass Grammatik in dem Sinne über sich hinauszuweisen hat, als sie zu einer Erleichterung des Erwerbs der jeweiligen Fremdsprache führen soll. Ein wichtiger Baustein hierfür sei es, die Fremdartigkeit der Fremdsprache für die Lerner herabzusetzen. Auf dieser theoretischen Basis analysiert Barrera-Vidal den subjonctif im Hinblick auf seine morphologischen Besonderheiten und beschreibt seine potentielle Kontextabhängigkeit und - auf der Basis dieser - mögliche Umgehungsstrategien und somit die Verwendung des Indikativs in sol­chen Fällen, in denen bei einer anderen Ausdrucksweise ansonsten der subjonctiv stehen müsste - Strategien, die durchaus von Muttersprachlern ge­wählt werden. Vor dem Hintergrund dieses Umgehungspotentials des subjonctif spricht er sich dafür aus, diesen Modus gerade in frühen Stadien der Franzö­sischvermittlung eher zum Zwecke der Rezeption zu lehren und für die Sprachproduktion die von Muttersprachlern angewandten Vermeidungsstrate­gien zu unterrichten. Aufgrund der Tatsache, dass die Grammatik Sprachnutzern und -lernern nicht nur Regeln vermittelt, sondern ihnen sogar Umgehungsstra­tegien anbietet, sieht der Autor die Grammatik und ihre Beherrschung - im Unterschied zu der herkömmlichen Auffassung, dass sie mit Vorschriften und "Zwang" verknüpft sei - als Repräsentantin der Freiheit.
Einen im Hinblick auf die Bereiche Grammatik und Kommunikation vollkommen anderen, jedoch ebenfalls integrativ angelegten Ansatz verfolgt Krista Seger­mann (Jena), die ihre im Internt frei verfügbare Elektronische Lexiko-Grammatik (ELG) vorstellt. Diese fußt nicht auf der Systemlinguistik, sondern auf der Ver­wendungslinguistik und der Kognitionspsychologie. Grammatik und Lexik wer-den innerhalb dieser Grammatik so aufbereitet, dass sie die Lernenden zu einer kommunikativen Sprechhaltung befähigen. Die behandelten Satzstrukturen der Fremdsprache - konkret des Französischen - werden dabei in Form von Bausteinen präsentiert, die es ermöglichen, diese nicht nur zu internalisieren, sondern durch Analogiebildung und die Verwendung jeweils kommunikativ angepassten Vokabulars zu erweitern und so auf die Bedürfnisse der Lerner anzupassen. Dieser Effekt wird durch die Einbindung der Lexik in Morphologie und Syntax erzielt, welche gleichzeitig den Weg zu Semantik und Idiomatizität freilegt. Es wird hier ein zutiefst didaktischer Grammatikansatz verfolgt, der die Erlernung des Französischen eher durch kognitive Bewusstmachung als durch die Erlernung explziter grammatischer Regeln ermöglicht.
Dirk Siepmann und Christoph Bürgel (beide Osnabrück) behandeln in ihrem Bei­trag die Schaffung einer korpusbasierten didaktischen Grammatik des Französi­schen, die auf dem von ihnen derzeit erstellten Corpus de Référence du français contemporain (CRFC) basiert, wobei ihnen hier als Beispiel der subjonctif dient. Nach einer kurzen Darstellung neuerer Ansätze zu Fremdsprachenvermittlung und Didaktischer Grammatik gehen die Autoren näher auf ihr derzeit in der Er­stellung befindliches Korpus ein, das die Jahre 1945 bis 2014 abdecken und insgesamt 220 Millionen Wörter umfassen soll. Charakteristika dieses Korpus sind, dass es das größte, nicht ausschließlich auf Internetquellen basierende Korpus darstellt, das bewusst auf textuelle Heterogenität angelegt ist, das in ei­nem beachtlichen Umfang orale Quellen und pseudo-orale Quellen (Forumsdis­kussionen, SMS) einschließt und das partiell auch über das Jahr 2014 hinaus aktuell gehalten werden soll. Auf der Basis dieses Korpus analysieren die Auto­ren den subjonctif quantitativ in den verschiedenen Textsorten und qualitativ im Hinblick auf verschiedene Auslöser. Ausgehend von diesen Daten identifizieren sie Lücken in der grammatischen Beschreibung dieser Auslöser, die in Zukunft aufgrund korpuslinguistischer Erkenntnisse geschlossen werden sollten - und dies mit Blick auf Präzisierungen hinsichtlich der realen Frequenz der subjonctif-Auslöser, der systematischen Einbeziehung oraler Verwendungen dieses Modus und schließlich einer Erweiterung möglicher Auslöser des subjonctif über Ver­ben, Adjektive und Konjunktionen hinaus hin zu komplexeren Konstruktions­typen, die ebenfalls eine subjonctif-auslösende Funktion haben. Gerade im Hinblick auf eine Berücksichtigung dieses letzten Konstruktionstyps ergebe sich u. a. eine Herstellung lernerfreundlicher Minikontexte für eine korrekte Verwendung dieses Modus.
Einen ebenfalls holistischen - also auf die gesamte Grammatik bezogenen - An­satz verfolgt Gérard Mercelot (Emden-Leer), der Reflexionen zu einer Grammatik fachsprachlicher Oralität anstellt. In seinen Überlegungen zur mündlichen Fach­sprachengrammatik Französisch, die auf konkrete, im Berufsleben gemachte Äu­ßerungen bezogen sind, stellt er - in einem Ansatz, in den die Wortarten, die Syntax und die Pragmatik einbezogen werden, und unter Verwendung einer Vielzahl von Beispielen - konkrete Phänomene des gesprochenen Französisch vor, die durch einen erheblichen Drang zu Funktionalität und den dem Arbeits- und Geschäftsleben inhärenten Zeitdruck geprägt sind und bisweilen zu einer Ökonomie im Ausdruck führen, die viele der vorgestellten Äußerungen aus der Sicht der Standardgrammatik bis an die Grenze zur Unverständlichkeit entstel­len. In seinem Beitrag, der sich aufgund seines Praxisbezugs durch hohe An­schaulichkeit auszeichnet, zeigt der Autor die dringende Notwendigkeit zu weiterer Erforschung - und didaktischer Aufbereitung - des gesprochenen Fran­zösisch auf, macht jedoch auch die Grenzen deutlich, der diese im Allgemeinen unterworfen sind.
Ebenfalls eine Analyse, die zur Präzisierung existierender Grammatiken in einem ausgewählten Bereich führen kann, legt Serge L. Gouazé (Valenciennes, Frank­reich) vor. Er untersucht die Adverbien juste und justement und die Adverbialphrasen tout juste und au juste im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihre Verwendung und ihre Entsprechungen im Deutschen. Diese von hoher Akribie gekennzeichnete Analyse ist - nicht zuletzt wegen der hohen Zahl angeführter Beispiele - dazu angetan, als Material für eine Verbesserung und Vertiefung des Adverbkapitels in bestehenden Grammatiken zu dienen. Sie ist dabei für den Grammatiker ebenso interessant wie für an der Kontrastiven Linguistik interes­sierte Forscher und trägt potentiell zur Perfektionierung der Kenntnisse derjeni­gen fortgeschrittenen Französischlerner bei, die diese vier Adverbien bzw. Ad­verbialphrasen einem sichereren persönlichen Gebrauch zuführen möchten.
Einer historischen Perspektive widmet sich Angela Weißhaar (Göttingen / Bre­men), die die von dem Sprachlehrer Gérard Du Viviers im 16. Jahrhundert für didaktische Zwecke verfasste religiöse Komödie Abraham et Agar in den Mittel­punkt ihrer Betrachtungen stellt. Dabei stellt sie die besondere Bedeutung der Handelsstadt Köln für den Französischunterricht der damaligen Zeit heraus. In ihrem Beitrag wird das Werk Du Viviers in seinen historischen Kontext eingeord­net, wobei nicht zuletzt die Widmungen seiner Werke - auch über die hier im Mittelpunkt stehende Komödie hinaus - Berücksichtigung finden.
In dem abschließenden Beitrag zu dieser Gedenkschrift untersucht Rainer Rauch (Duisburg-Essen) am Beispiel pronominaler Referenzen die Suche nach Textkohä­renz und schlägt auf diese Weise einen Bogen zwischen Hartmut Kleineidam und Google. Anhand seiner Reflexionen zeigt er, dass ein für die maschinelle Umset­zung menschlicher Sprache wichtiger Bereich - die Auflösung referentieller Pro­nomina - mittels der fuzzy logic einfacher möglich ist, als es zunächst den Anschein haben mag.
Nicht zuletzt sei an dieser Stelle meinem Team für den unermüdlichen Einsatz gedankt, allen voran Barbara Beyersdörfer, jedoch ebenso und in gleichem Maße Stephanie Haldy-Schmolze, Corinna Huth, Eva Langenbahn und Claudia Servé sowie gleichermaßen Nathalie Rutsch und Michael Marburg.
Die Vorbereitung dieses Gedenksymposiums war auch für mich als einem Schüler Hartmut Kleineidams - wenn dies hier persönlich angemerkt werden darf - auf beruflicher ebenso wie auf menschlicher Ebene eine höchst ange­nehme Erfahrung.
Saarbrücken, im August 2015                                                                           Thomas Tinnefeld

1 Die in diesem Vorwort aufgeführten biographischen Informationen über Hartmut Kleineidam stammen aus dem Wikipedia-Artikel über ihn (https://de.wikipedia.org/
wiki/Hartmut_Kleineidam; 20.02.2015) sowie aus der im Jahre 1992 zu seinen Ehren herausgegebenen Gedenkschrift Grammatica vivat (Barrera-Vidal, Albert, Manfred Raupach & Ekkehard Zöfgen (Hrsg.) (1992). Grammatica vivat. Konzepte, Beschrei­bungen und Analysen zum Thema 'Fremdsprachengrammatik'. In memoriam Hartmut Kleineidam. Tübingen: Narr).
2 Kleineidam, Hartmut (1988): Li ver de Couloigne, Du bon ange et du mauves, Un en­saingnement. Textkritische Untersuchung und Edition, München.
3 Um diesem unterschiedlichen Charakter der beiden Teile des vorliegenden Buches auch typographisch Rechnung zu tragen, sind die Reminiszenzen in Verdana und die wissenschaftlichen Aufsätze in Calibri gesetzt.